1.2 Frühe Reformationsbewegungen in der Kirche
Die Gestalt der Kirche ändert sich schon immer. Auch in der Zeit vor Luther gab es schon Reformbewegungen, wie z. B. von Petrus Waldes in Südfrankreich und von Jan Hus in Böhmen (heutiges Tschechien). Warum führte dies aber nicht zu einer so großen Spaltung wie bei Martin Luther?
Inhaltliche Einführung
In allen Religionen gibt es heilige Gebäude und Formen der „Vergemeinschaftung“. In der christlichen Kirche drückt sich dies im Begriff des „Leibes Christi“ aus. Alle Gläubigen bilden diesen Leib. Sie haben den Auftrag zu lehren, zu feiern und zu dienen. Jesus Christus, in deren Nachfolge sie steht, hat das Reich Gottes verkündet, Jüngerinnen und Jünger um sich geschart, aber keine Institutionalisierung zur Kirche vorgenommen. Die Hinweise auf eine schrittweise Entwicklung einer vergleichbaren Struktur im Neuen Testament (Auftrag an Petrus; Abendmahl, Pfingsten) können unterschiedlich interpretiert werden.
Es wundert daher auch nicht, dass in den letzten fast 2000 Jahren die Kirche sich immer wieder über ihr Wesen und ihren Auftrag besonnen hat. Kirchenkritik ist so alt wie die Kirche selbst und immer wieder gab es Veränderungs- und Erneuerungsbewegungen. Erneuerungen gab es im Mittelalter durch die Armutsbewegung von Franziskus (die Franziskaner), durch den städtischen Predigtorden der Dominikaner, durch das Frömmigkeitsideal der Devotio Moderna. Grundsätzlicher waren aber die Anfragen von Petrus Waldes in Frankreich, John Wyclif in England, Jan Hus in Böhmen.
Unter „Reformation“ können wir alle Bewegungen zusammenfassen, die die augenblickliche Gestalt der Kirche zum Anfang durch Jesus Christus kritisch in Beziehung setzen.
Als jedoch die Reformation gilt die Kritik des Mönchs und Theologieprofessors Martin Luther in Deutschland. Sie sollte zur reformatorischen Spaltung der katholischen Kirche und zum Protestantismus führen. Für die europäische Verbreitung dieser Ideen waren daneben andere Reformatoren wie Huldrych Zwingli und Johannes Calvin in der Schweiz wichtig.
Als zwei Beispiele für frühreformatorische Bewegungen werden hier Petrus Waldes und Jan Hus vorgestellt.
Petrus Waldes
Petrus Waldes (1150-1206) war ein reicher Kaufmann in Lyon und gründete 1176 eine Armutsbewegung für Männer und Frauen: die „Armen Christi“. Sein Bekenntnis zur Armut ist motiviert durch den Wunsch, nach dem Vorbild der Apostel zu leben. Dieser Wunsch entstand aus der Lektüre der Bibel in seiner Muttersprache. Soziologisch betrachtet war sie eine Reaktion auf die Urbanisierung im Mittelalter, die zu einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich führte. Waldes verteilte sein Geld an die Armen und lebte danach als Laienprediger in Südfrankreich. Waldes versuchte vergeblich, seine Bewegung von der Kirche anerkennen zu lassen. Um dies zu errreichen, schrieb er ein „Glaubensbekenntnis“. Im Jahr 1184 wurde er vom Papst und vom Konzil von Verona wegen unerlaubter Predigttätigkeit exkommuniziert. Ihm wurde der Vorwurf gemacht "er könne noch nicht mal Latein lesen!" Nach Waldes' Tod (1206/07) fand ein Teil der Anhänger zur katholischen Kirche zurück: die „katholischen Armen“ (ab 1210). In dieser Zeit entstand auch die vergleichbare Bewegung von Franziskus von Assisi. Andere Anhänger von Waldes radikalisierten sich und nahmen den Spottnamen „Waldenser“ als Ehrennamen an. Sie verweigerten den richterlichen Eid und den Kriegsdienst, verwalteten selbst ihre Sakramente und erlaubten auch Frauen zu predigen. Sie wurden verfolgt und zogen sich in die Alpentäler südlich von Genf und westlich von Turin (westliche Alpen) zurück. Im 14. Jahrhundert hatten die Waldenser ihre größte Ausbreitung in ganz Westeuropa. In dieser Zeit wird Waldes zum ersten Mal als "Petrus" bezeichnet, weil ihn seine Nachfolger als "neuen Petrus" ansahen.
Im Jahr 1532 schlossen sich die Waldenser auf der Synode von Chanforan dem reformierten Protestantismus an, auch weil Calvins Mitarbeiter Guillaume Farel aus Savoyen kam. Nach dem Edikt von Nantes (1685) flüchteten viele Waldenser nach Württemberg und Baden. Die Waldenser verloren nach und nach ihre radikalen Züge, behielten aber an das sola scriptura und verstehen sich bis heute als frühreformatorische Bewegung. Die etwa 30.000 Waldenser sind in Italien eine aktive protestantische Minderheit.
Jan Hus
Jan Hus (1369-1415) wurde im böhmischen Husinec geboren. Er promovierte 1396 und wurde 1402 Magister für Theologie in Prag. Hus´ reformatorische Kritik fußte auf den Ideen von John Wyclif (1330-1384), der gleicherweise gegen die Macht und den Reichtum der Kirche protestierte, vor allem, weil sie nicht biblisch zu begründen sei. Hus predigte auf Tschechisch in der Prager Bethlehemskapelle und sein Reformstreben wurde von böhmischen Adeligen aufgegriffen. Durch seine Kritik am Ablasshandel, vom dem das böhmische Königtum profitierte, verlor er dessen Unterstützung und wurde 1412 aus Prag verbannt. Jan Hus hatte den Kaiser und den Papst gegen sich. Auf dem Konzil von Konstanz (1415) wollte er seine Lehre erteidigen, wurde aber verhaftet und als Ketzer verurteilt. Er starb in Konstanz am 6. Juli 1415 auf dem Scheiterhaufen. Seine Asche wurde im Rhein verstreut. Jan Hus´ Martyrium machte ihn zum tschechischen Nationalhelden. Die Hussiten kämpften von 1419-1436 gegen Reich und Kaiser für ihre Autonomie. 1457 schlossen sich Waldenser und Hussiten zusammen zu den Böhmischen Brüdern. Später vereinten sie sich mit der Herrnhuter Brüdergemein(d)e. Martin Luther fühlte mit der Lehr von Jan verbunden. Er bekannte „Wir sind alle Hussiten“!
Die Kirchenkritik von Waldes und Hus führte, nicht direkt zu einer grundlegenden Reformation der Kirche, sondern zu eigenen Glaubensgemeinschaften und zu einer Spaltung der römisch-katholischen Kirche.
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