6.2 Bildung und Reformation
Vieles im heutigen evangelischen (Selbst-) Bewusstsein wurzelt in der Demokratisierung des Wissens, die im Zuge der Reformation durchgesetzt wurde. Die Übersetzung der Bibel ins Deutsche durch Martin Luther, die Einführung muttersprachlicher Liturgie und Predigt, die breitere Verfügbarkeit der protestantischen Positionen durch den in der Vorreformationszeit von Johannes Gutenberg entwickelten Buchdruck mit beweglichen Lettern etc. zählen bis heute zu den gängigen Narrativen. Dieses Modul nimmt auf Basis exemplarischer, historischer Zugriffe solche Fragestellungen in den Blick und motiviert zum Nachdenken über den Zusammenhang von Wissen bzw. Bildung und deren Einfluss auf gesellschaftliche und kirchliche Strukturen. Das gängige evangelisch-protestantische Selbstbewusstsein wird dabei einer kritischen Prüfung unterzogen.
Inhaltliche Einführung
„Wissen ist Macht – Unwissen ist Ohnmacht!“ Mit diesem Slogan warb der ehemalige CDU-Generalsekretär und bekennende Christ Heiner Geißler in einer Kampagne im Jahr 1997 für die gedruckte Enzyklopädie des Brockhaus-Verlages. Dieser geriet in diesen Jahren durch die schnelle, kostengünstige und örtlich ungebundene Verfügbarkeit von Informationen durch das Internet zunehmend unter wirtschaftlichen Druck. Die gedruckte Ausgabe des großen Brockhaus wurde zwischenzeitlich eingestellt.
Das Plakat und die Einstellung einer der renommiertesten, gedruckten Enzyklopädien lassen mehrere Bezüge und Fragestellungen zur Themenstellung „Bildung im Kontext der Reformation“ zu:
•Ist die behauptete Verbindung von Wissen und Macht (damals wie heute) zutreffend?
•Wie definiert man „Wissen“ und „Bildung“?
•Ist „Wissen“ Macht oder ist „Bildung“ Macht?
•Gibt es einen machtrelevanten Wissenskanon und wenn ja, wer definiert diesen?
•Aus welchen Quellen speisen sich Wissen und Bildung und wie sind sie verfügbar?
•Hat die Verfügbarkeit einen Einfluss auf das Denken der Menschen oder auf gesellschaftliche Strukturen?
Historischer Abriss
Die Auseinandersetzung mit der säkularen Bildung war von Beginn an Gegenstand der Christen. Deutlich wird dies beispielsweise am Johannesevangelium oder innerhalb der paulinischen Theologie, die ohne ein Verständnis antiker Weltanschauungen kaum verstehbar sind. Auch die Texte der Kirchenväter zeigen, dass sich die frühchristliche Theologie stets in Auseinandersetzung mit dem verfügbaren Wissen der griechisch-römischen Antike und des antiken Judentums entwickelte und präzisierte.
Während der Zugang zum Wissen im für Mitteleuropa prägenden römischen Einflussbereich prinzipiell nicht an die Zugehörigkeit zu einer speziellen Gruppe oder eine gesellschaftliche Herkunft gebunden, sondern von der finanziellen Möglichkeit abhängig war, sich entsprechende (Privat-) Lehrer leisten zu können, verlagerte sich diese Möglichkeit im kirchlichen Bereich ab dem frühen Mittelalter zunehmend in den monastischen Bereich. Dafür waren zumindest drei Gründe wesentlich:
•das Vorhandensein der notwendigen finanziellen und zeitlichen Ressourcen,
•das Vorhandensein von gebildeten oder zumindest alphabetisierten Personen
•das Bewusstsein / Selbstverständnis, dass das Nachdenken und Schreiben über alle Bereiche der menschlichen Existenz einen Wert darstellt.
Im Zuge der niedergehenden säkularen Bildung entwickelten sich in den Klöstern und an den Bischofsstühlen „exclusive“ Wissens- und Bildungszentren. Diese Entwicklung wurde durch die karolingische Bildungsreform sowie das ottonische Reichs-kirchensystem noch bestärkt und mit der säkularen Herrschaftselite verknüpft. Können und Wissen eines Teils des Klerus wurde mehr und mehr zum Herrschaftsinstrument. Gerade die mittelalterliche und frühneuzeitliche Kirche zeigt jedoch, dass Bildung nicht die zentrale Voraussetzung war, um in der (amts-) kirchlichen Hierarchie aufzusteigen und Führungspositionen einzunehmen.
In den klösterlichen Skriptorien und Bibliotheken des Mittelalters erfuhren die säkularen antiken Texte und das darin enthaltene breitere „weltliche“ Wissen zumeist eine nur geringe Wertschätzung. Erst im Zuge des Humanismus und der Renaissance gerieten diese wieder mehr in den Blick. Teile davon wurden erst über den kulturellen Austausch mit der arabischen Tradition wieder verfügbar. Die Universitätsgründungen suchten ihrem namensgebenden Anspruch gemäß die Zusammenführung von Theologie und säkularem Wissen zu einer universalen Bildung zu verwirklichen. Der antike, Rationalität und naturwissenschaftliche Verfahren implizierende Ansatz wurde dabei in der Regel noch nicht als Gegensatz zur religiösen Weltdeutung gesehen (vgl. Erasmus von Rotterdam). Die zentrale Aufgabe der damals noch jungen Universitäten blieb aber zunächst die Ausbildung kirchlicher Eliten. Dies wurde immanent durch die Zugangswege über die Dom- und Klosterschulen und die selektiven Wissenschaftssprachen Griechisch und Latein gestützt.
In diesem Kontext stand der Mönch und Theologieprofessor Martin Luther. Erst im Laufe der Auseinandersetzungen mit der römischen Kirche und dem mit ihr verbundenen Kaisertum wird ihm die Bedeutung einer muttersprachlichen Bibelübersetzung und die leichte und schnelle Verbreitung des reformatorischen Schrifttums mittels des Buchdrucks zur Durchsetzung reformatorischer Ziele zunehmend bewusst. Ein deutliches Bewusstsein für die Notwendigkeit einer entsprechenden, früh einsetzenden Bildung und Ausbildung, um den reformatorischen Bemühungen die notwendige Nachhaltigkeit zu geben, hatte Philipp Melanchthon, der mit seinem umfassenden pädagogischen Schrifttum, wozu auch praxisorientierte Lehrwerke und Schulordnungen zählten, hier Wesentliches beitrug. Die Gründung von protestantischen Schulen und Universitäten institutionalisierte diesen Ansatz. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch muttersprachliches Schriftgut nur einen sehr kleinen alphabetisierten Teil der mitteleuropäischen Bevölkerung des 16. Jahrhunderts erreichen konnte. Die spezifische Entwicklung der Reformation in den Städten hat hier vermutlich eine ihrer Ursachen, da die Alphabetisierungsquote in den Städten größer war als auf dem Land.
Die Jesuiten, seit 1534 mit ein zentraler Träger der Gegenreformation hatten (und haben) die schulische und universitäre Ausbildung der Multiplikatoren von Beginn an im Blick. Zahlreiche gegenreformatorische Universitätsgründungen trugen ihre Handschrift. Besonders in den Blick nahmen die Jesuiten erstmals den Bereich, den man heute als frühkindliche Bildung bezeichnen würde. Als Reaktion auf die muttersprachliche Liturgie und Predigt fanden sie neue Formen der Glaubens-vermittlung für die nicht literarisierten Bevölkerungsgruppen in Form von Schauspielen und anderen Formen nicht schriftlicher Katechese.
Nach dem Augsburger Religionsfrieden (1555) sorgten dann, je nach konfessioneller Ausrichtung, katholische oder protestantische Bildungssysteme für die jeweils gewünschte Sozialisation. Dies geriet immer stärker in Konflikt mit den Ideen der Aufklärung. Profitierten die Landesfürsten zunächst von der Kooperation mit den Kirchen im Bildungsbereich, zogen sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts schließlich mittels Säkularisation und allgemeiner Schulpflicht die Bildung an sich, auch um auf ihre Bürger in ihrem Sinne unmittelbar, frühzeitig und damit nachhaltig Einfluss nehmen zu können.
Bis in die Gegenwart hinein versuchen Staaten bis hin zu einzelnen gesellschaftlichen Gruppen, über den Zugriff auf die Verfügbarkeit von Wissen Menschen zu beeinflussen und eigene Machtpositionen zu sichern. Vor allem die Entwicklung liberaler Ideen wird in atheistischen wie auch in religiös geprägten autoritären Systemen durch Einschränkung von Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten zu unterbinden versucht. Im Gegenzug erhalten gerade nichtstaatliche und oppositionelle Gruppen mit den Möglichkeiten des Informations- und Wissensaustausches über das Internet neue und mächtige Instrumente.
„Wissen ist Macht – Unwissen ist Ohnmacht“ – dies scheint eine Erkenntnis, welche die Zeit der wissenden antiken Philosophen, der mittelalterlichen Theologen und neuzeitlichen Universalgelehrten ebenso überdauert, wie die Wende der digitalen Revolution des Informationszeitalters.
Wissen, auch das zeigt ein Blick auf Geschichte und Gegenwart, führt den Menschen aber weder zwingend zu Gott noch zu einer säkular-humanistisch gedachten besseren Welt. Hier wird der Unterschied zum Bildungsbegriff deutlich, der weit mehr umfasst als Wissen und sich daher auch deutlich schwerer für Herrschaft instrumentalisieren lässt. Rene Descartes philosophische Gründungsformel der Neuzeit „Cogito (dubito) ergo sum – ich denke (zweifle), also bin ich“ denkt immer den Zweifel, die Unsicherheit menschlicher (Gottes-) Erkenntnis mit und bleibt somit eine permanente Mahnung zur Bildung und zur reformatio – im kirchlichen wie im weltlichen Bereich.
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