6.3 Martin Luther und die Juden
Inhaltliche Einführung
Vorbemerkung
Der mehr religiös konnotierte Antijudaismus und der rassistisch motivierte Antisemitismus sind seit 150 Jahren in Europa und leider nicht nur hier zuhause. Und auch wenn die Erfahrung des Holocaust für viele Jahrzehnte hinweg dazu führte, dass angesichts der Größe des damit verbundenen Schreckens die Stimmen leiser wurden, verstummt sind sie leider nie. Dazu tragen nicht allein nationalistisch-populistische Bewegungen in Westeuropa bei. Getarnt unter dem Begriff „Antizionismus“ macht sich sowohl als Erbe postsowjetischer als auch im Gefolge des palästinensisch-jüdischen Konfliktes ein „sekundärer Antisemitismus“ breit.
In dieser Gemengelage soll die Unterrichtseinheit zweierlei erreichen: Die Wurzeln des Antijudaismus als latente Gefahr des christlichen Glaubens aufdecken, wie auch die im Gefolge der Heldenverehrung vorangetriebene Entheroisierung zu kontextualisieren: Luther war am Ende seines Lebens Antijudaist im (schrecklichen) Rahmen seiner Zeit. Dass es ihm - als zweifelsohne evangelischem Theologen wie so vielen nach ihm - nicht gelang, sich aus diesen Vorurteilen zu lösen und zur Freiheit des Evangeliums durchzudringen, ist und bleibt eines der dunkelsten Kapitel seines theologischen Denkens und seiner Wirkung.
Grundlegendes
In Luthers Umgang mit Juden lassen sich grundsätzlich drei Phasen beschreiben:
(I.) 1523 verlangt er in seiner Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei eine gewaltfreie Judenmission und gesellschaftliche Integration der Juden.
(II.) 1525ff: Unter dem Eindruck fehlender Missionserfolge unter Juden, der zunehmenden inneren (Täufer, Spiritualisten) und äußeren (Kaiser; Bauernkrieg) Gefährdung der Reformation rückt er seit 1525 zunehmend von seinen Positionen ab. Luther übernimmt immer stärker die Stereotypen des im späten Mittelalter weitverbreiteten Antijudaismus auf.
(III.) 1543ff forderte er in seiner Schrift Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi und Wider die Juden und ihre Lügen die evangelischen Fürsten zur Versklavung oder Vertreibung der Juden auf und erneuerte dazu die judenfeindlichen Stereotype, die er noch 20 Jahre zuvor verworfen hat.
Luthers Antijudaismus ist nicht rassistisch sondern theologisch motiviert. Eine biologistisch-pseudonaturwissenschaftlich untermauerte „Rassenlehre“ gibt es zu seiner Zeit noch nicht. Sein Antijudaismus ist vielmehr von einer christologisch zugespitzten Theologie bestimmt. Luther geht davon aus, dass
i. Christus Messias ist, der das Heil allein durch den Glauben für alle Menschen bringt.
ii. Das Heil wird dem Menschen durch den Glauben an Jesus Christus geschenkt. Der Mensch kann sich durch die guten Werke nicht selbst rechtfertigen – auch in dem besten Leben. Unter dem „Papsttum“ ist die Werkgerechtigkeit aufgreichtet worden durch Wallfahrten, Schenkungen und ähnliche „Werke“. Die Werkgerechtigkeit wird zur Negativfolie gegenüber dem durch das Evangelium zum Strahlen gebrachten Glauben und der durch den Glauben geschenkten Gerechtigkeit. Ob nun Altgläubige oder Juden, für Luther sind sie alle Menschen, die ihr Heil durch ihre selbstgemachte Gerechtigkeit (gute Werke oder einhalten der Tora) heraufführen wollen.
iii. Das Heil in Christus gilt aller Welt und nicht allein den Juden. Ein Vorrecht, das sich aus der leiblichen Zugehörigkeit zum Volk Israel ergibt, ist damit obsolet. Es gebe keine Berufung auf die Väter, die Thora oder andere Vorrechte.
iv. Im Alten Testament werde angekündigt, was sich im Neuen Testament in Jesus erfüllt hat. Das Alte Testament hat also eine Art dienende Funktion, um auf Jesus hinzuweisen, ihn anzukündigen. Die rein inneralttestamentliche Exegese habe deshalb keinerlei Berechtigung, sie muss unter dem Vorbehalt stehen, ob die Texte christologisch verstanden werden können.
Die theologische Kritik Luthers am Alten Testament und am Judentum, wurzelt auch in antijudaisitischen Äußerungen, die sich auch im Neuen Testament finden (zum Beispiel Mt 27,25; Joh 8,44; 1 Thess 2,15).
Daneben ist Luther Kind seiner Zeit. Er übernimmt gerade in seinen Spätschriften unreflektiert den Antijadaismus des späten Mittelalters. Er läßt dabei seiner Enttäuschung, dass sie „die Juden“ obwohl sie das Evangelium nun hören könnten, sich aber nicht bekehrt haben - was er erhofft hatte - freien Lauf.
Sein Antijudaismus bildet verbudnen mit der Autorität, die Luther bei vielen Protestanten genoss, dass der Protestantismus dem rassisch motivierten Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert nicht so distanziert gegenübertret, wie es unbedingt notwendig gewesen wäre. Er war und blieb – aus theologischen Gründen! – anfällig gegenüber dem Antijudaismus.
Wo er auf den rassisch motivierten Antisemitismus traf, bildete er ein töfdlich wirkendes Amalgam. In der Zeit des Nationalsozialismus rechtfertigten die NS-Propaganda und die der sogenannten „Deutschen Christen“ (DC) die staatliche Judenverfolgung, besonders die Novemberpogrome von 1938 mit Luthers späten antijudaistischen Schriften. Auch wenn sie nur einen Bruchteil seines Werkes ausmachen, wurden sie doch in dieser Zeit schrecklich wirksam. Seit den 1960er Jahren distanzieren sich viele evangelische Kirchen öffentlich von Luthers judenfeindlichen Aussagen. Ob und wie weit damit auch Luthers Theologie zu revidieren ist, wird im Augenblick diskutiert.
Wurzeln des lutherischen Antijudaismus im Mittelalter
Antijudaistische Denkmuster sind im späten Mittelalter weit verbreitet: Gott strafe die Juden wegen der Kreuzigung Jesu („Gottesmörder“), mit dem Verlust des Tempels, der Zerstreuung in alle Welt und der Verfolgung durch alle Völker. Sie seien gottlos, christenfeindlich, verstockt, verflucht, stammten vom Teufel ab, seien mit dem Antichrist identisch. Sie verüben regelmäßig Ritualmorde, Hostienfrevel und vergifteten die Brunnen.
Da Juden in von Christen gemiedene oder verrufene Berufe abgedrängt woden waren, war es umso leichter, zu behaupten, dass sie Wucherzinsen nehmen, arbeitsscheu seien und die Christen ausbeuteten. Anhebend mit den Kreuzzügen (12./13. Jahrhundert) und der Pestepidemie (ab 1347) werden die Juden an vielen Orten Europas zu Südneböcken erklärt, verfolgt, getötet und vertrieben.
Um 1500 sind im Heiligen Römischen Reich ungefähr 40.000 von 20 Millionen Einwohnern Juden. An Luthers Wohn- und Aufenthaltsorten leben so gut wie keine Juden. Luthers Vorstellungen von Juden sind nicht von seinen wenigen persönlichen Begegnungen, sondern im Wesentlichen von antijudaistischen Vorurteilen, seiner Auslegung der Bibel, innerchristlichen Konflikten und religionspolitischen Zielen bestimmt.
Luthers Judenschriften
Luthers Schriften Magnificat (1521) und Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei (1523)
In seiner Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei versucht Luther den bislang unterdrückten Juden ein Leben in evangelischen Gebieten zu ermöglichen. Er befristet dieses Angebot jedoch zeitlich und macht es vom Erfolg der Reformation und der Judenmission abhängig. Die Christen sollen die Juden freundlich behandeln und dürfen sie nicht verachten, da gemäß der gültigen Verheißung an Abrahams täglich einige Juden Christus erkennen könnten: „Wer wollte Christ werden, wenn er Christen so unchristlich mit Menschen umgehen sieht. So nicht, liebe Christen. Man sage ihnen gütlich die Wahrheit. Wollen sie nicht, so lasst sie fahren. Wie viele sind Christen, die Christus nicht achten, auch seine Worte nicht hören, ärger als Heiden und Juden.“
Und: Dass die Juden unter dem Papsttum keine Christen hätten werden wollen, sei ja durchaus einsichtig. Da das Papsttum auch nur die Werkgerechtigkeit und den Zwang anzubieten gehabt habe. Aber nun da das Evangelium gepredigt werde, solle man die Juden in die Gesellschaft aufnehmen. Sie würden sich schon von den Predigten überzeugen lassen.
1525: Auseinandersetzungen
Seitdem die innerevangelischen Konflikte mit den „Schwärmern“ zunehmen, rückt Luther von dem Grundsatz ab, „Ketzer“ nur mit Gottes Wort zu bekämpfen. Besonders seit den Bauernaufständen von 1525, die er als „schwärmerische“ Vermischung von weltlichem und göttlichem Regiment versteht, erwartet er von den evangelischen Fürsten, die „Irrlehrer“ mit staatlichen Gewaltmitteln zu bekämpfen. Die „Obrigkeit“ solle öffentlich geäußerte Irrlehren wie Blasphemie und Aufruhr bestrafen. Man dürfe andersgläubige Christen nicht wie die Juden „leiden und dulden“. Der Schritt dazu, auch die Andersgläubigen zu zwingen, ist nicht mehr weit.
Ab 1543: Schriften gegen die Juden
Ab 1538 tendierte er immer mehr zur endgültigen Vertreibung der Juden aus evangelischen Gebieten. In Luthers Augen waren die Täufer mit ihrer Einhaltung der biblischen Gebote und die sogenannten „Sabbather“ in Mähren Beweise für die These, dass die Juden unter den Evangelischen missionieren würden. Die Schriften von 1543 (Von den Juden und ihren Lügen; Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi) sind wohl der Angst Luthers geschuldet, die Auseinandersetzung um die „rechte“ Auslegung des Alten Testaments (jüdisch-inneralttestamentliche contra christologische) zu verlieren und damit auch die Deutungshoheit über die Schrift. In seinen Schriften, die sich nur noch nach innen an die Evangelischen richten, greift er alle damaligen judenfeindlichen Stereotype auf, verschärft sie und verwendet sie als Waffe gegen einen gefühlten Gegner.
Mit der Schrift Vom Schem Hamphoras nimmt Luther eine jüdische Legende aus den Toledot Jeschu auf, die Jesus als Zauberer und unehelich gezeugtes Kind darstellt. In dieser Schrift wird behauptet, dass er den Gottesnamen JHWH (hebräisch umschrieben mit „Ha-Schem Ha-Mephorasch“, „der einzigartige Name“) als magische Formel missbraucht habe.
Er beschreibt in seiner Schrift Von den Juden und ihren Lügen den angeblichen „Hochmut“ der Juden seiner Zeit: Sie hielten sich aufgrund Abstammung, Beschneidung, Tora, Land- und Tempelbesitz für Gottes Volk, obwohl sie doch wie alle Menschen als Sünder unter Gottes Zorn stünden. Er versucht anhand von fünf biblischen Belegen aus dem Alten Testament die Messianität Jesu zu beweisen. Nach seiner Beschreibung der jüdischen Polemik gegen ihn, Martin Luther, und die Christen im Allgemeinen, leitet er daraus konkrete Maßnahmen gegen die Juden ab: Da die Juden blutdürstig, rachsüchtig, das geldgierigste Volk, leibhaftige Teufel, und verstockt seien, ihre Rabbiner die christliche Jugend verführten, sich vom wahren Glauben abzuwenden, müssten sie entschlossen bekämpft werden. Mehrmals unterstellt Luther den Juden die Bereitschaft, Brunnen zu vergiften, Kinder zu rauben und zu zerstückeln. Er verlangt von der Obrigkeit sieben Schritte, die er zynisch als „scharfe Barmherzigkeit“ bezeichnet, um dies zu ändern. Das Folgende liest sich wie ein Programm zur Vernichtung jüdischen Lebens: Man solle ihre Synagogen niederbrennen, ihre Häuser zerstören und sie wie Zigeuner in Ställen und Scheunen wohnen lassen, ihnen ihre Gebetbücher und Schriften wegnehmen, die ohnehin nur Abgötterei lehrten, ihren Rabbinern das Lehren bei Androhung der Todesstrafe verbieten, ihren Händlern freies Geleit und Wegerecht entziehen, ihnen Geldgeschäfte verbieten, all ihr Bargeld und ihren Schmuck einziehen und verwahren, den jungen kräftigen Juden Werkzeuge für körperliche Arbeit in die Hand geben, damit sie damit ihr Brot mit ihrer eigenen Arbeit verdienen. Immerhin wird bei diesen schrecklichen Forderungen an keiner Stelle dazu aufgefordert, Juden zu töten. Für befangene Leser könnte sich aber dieser Eindruck in der Verlängerung der Aussagen Luthers geradezu aufdrängen.
Die Rezeption des Antijudaismus Luthers im 19. Jahrhundert
Für die evangelischen Kirchen im Deutschen Kaiserreich (1870–1918) blieb im Umgang mit dem Judentum zunächst Luthers Schrift von 1523 maßgebend. Seine späten Schriften galten als unvereinbar mit Paulus und der reformatorischen Theologie. Zunächst beriefen sich nicht einmal gemäßigte Antisemiten wie der Hofprediger Adolf Stoecker auf Luthers Spätschriften.
Maßgeblich für die publizistische Verbreitung des Antisemitismus im Kaiserreich und seine anachronistische Berufung auf Luther wurde der Verleger und Publizist Theodor Fritsch: Der „deutsche Luther“ sei 1543 mit den „schärfsten Waffen“ gegen den „jüdischen Weltfeind“, die „ehrlosen Fremdlinge“, die weltweit kooperierende „Verbrecher-Genossenschaft“, die „Nation der Menschheitsverräter“ vorgegangen. Fritsch erklärte Jesus zum Arier, der den Gott des Alten Testaments besiegt habe. In der Weimarer Republik nimmt der Antisemitismus in den republikfeindlichen Rechtsparteien rasch zu. Völkische Autoren eröffneten in den 1920er Jahren eine öffentliche Debatte um die Stellung des Alten Testaments und Luthers Judenschriften. Der antisemitische Schriftsteller Artur Dinter nennt Jesus Christus 1926 den „größten Antisemiten aller Zeiten“, der kein Jude gewesen sein könne. Er forderte eine „Vollendung der Reformation“ und konsequente „Entjudung“ der „Heilandslehre“ durch ihre Trennung von der „jüdisch-römischen Fälschung“ des Alten Testaments und von Paulus. Dafür sei Luther wegen seiner Bindung an das Alten Testaments keine Autorität mehr. Auch wenn er und seine Deutsche Volkskirche eine Randerscheinung blieben verbreitete seine aggressive publizistische Tätigkeit doch antisemitisches Gedankengut in weiten Teilen der Bevölkerung.
Das NSDAP-Blatt Der Stürmer vereinnahmt ab 1923 aus dem Zusammenhang gerissene Zitate aus dem Neuen Testament und von christlichen Autoren, darunter auch Luther, für seine antisemitische Hetze. 1928 stellte das Blatt Luthers späte Judentexte als „viel zu wenig bekannt“ dar. Durch persönliche Erlebnisse mit Juden habe er nach dem Kampf gegen Rom die Aufgabe erkannt, die Deutschen von der „jüdischen Pest“ zu befreien.
Innerhalb der evangelischen Kirche formierte sich der Widerstand gegen diese Vereinnahmung und völligen Entkontextualisierung Luthers.
Dagegen erklärt Eduard Lamparter 1928 für den Verein zur Abwehr des Antisemitismus: Luther sei parteipolitisch als „Kronzeuge des modernen Antisemitismus“ vereinnahmt worden. Jedoch sei er 1523 „auf dem Höhepunkt seines reformatorischen Wirkens für die Unterdrückten, Verachteten und Verfemten in so warmen Worten eingetreten“ und habe „der Christenheit die Nächstenliebe als die vornehmste Pflicht auch gegen die Juden so eindringlich ans Herz gelegt“. Prominente evangelische Theologen empfehlen allen Pastoren, die Erklärung als maßgebende Position der evangelischen Kirche zu verlesen: Antisemitismus sei eine Sünde gegen Christus und mit dem christlichen Glauben unvereinbar
Rezeption in der Zeit des Nationalsozialismus
Der Deutsche Evangelische Kirchenbund begrüßte 1933 die „Machtergreifung“ des NS-Regimes mit großer Begeisterung. Vertreter wie Otto Dibelius beim Tag von Potsdam (21. März 1933) lobten die Beseitigung der Weimarer Verfassung als „neue Reformation“, stilisierten Hitler zum gottgesandten Retter des deutschen Volkes, parallelisierten seine und Luthers Biografien und konstruierten eine gegen Menschenrechte, Demokratie und Liberalismus gerichtete historische Kontinuität von Luther zu Hitler.
In der NS-Zeit wurden Luthers Judentexte häufig neu herausgegeben und von der NS-Propaganda, den rassistischen DC und ihren innerkirchlichen Gegner behandelt. Ab 1933 behauptete der „Stürmer“, in neueren kirchengeschichtlichen Arbeiten werde Luthers „geradezu fanatischer Kampf gegen das Judentum“ „totgeschwiegen“. Er habe als guter Mensch Juden erst zu bekehren versucht, dann erkannt, dass Mission vergeblich sei, weil „der Jude…der geborene Zerstörer“ sei, und das deutsche Volk darüber „aufgeklärt“. 1937 und 1938 bekräftigten zwei Artikel, Luther müsse als „unerbittlicher und rücksichtsloser Antisemit“ gelten und die evangelischen Pastoren müssten das viel stärker predigen. 1941 wies das Blatt die Auffassung zurück, Luthers späte Judentexte seien eine Rückkehr zum Mittelalter, Alterslaune oder rein theologisch motiviert gewesen. 1943 erklärte der Redakteur Julius Streicher Luthers die Übersetzung des Alten Testamentes und seine Schrift von 1523 sei eineFolge kirchlicher Erziehung, von der er sich danach abgekehrt habe. Er habe erkannt, Christus könne mit dem „jüdischen Mördervolk“ nichts gemein haben, und deshalb ihre Ausweisung verlangt. Er spreche als Mahner in die Gegenwart: „Das Verbrechervolk der Juden muß vernichtet werden, auf daß der Teufel sterbe und Gott lebe.“ Streicher behauptete daher 1946 im ersten Nürnberger Prozess: „Dr. Martin Luther säße heute an meiner Stelle auf der Anklagebank“, wenn seine Schrift von 1543 berücksichtigt würde. Darin habe er geschrieben, „die Juden seien ein Schlangengezücht, man solle ihre Synagogen niederbrennen, man solle sie vernichten“.
Dietrich Bonhoeffer erklärte im Juni 1933 in seinem Vortrag „Die Kirche und die Judenfrageals der erste und fast einzige deutsche Lutheraner, die evangelische Kirche müsse aufgrund ihrer eigenen Botschaft für die Menschenrechte der Juden und anderer verfolgter Minderheiten eintreten und darum staatlicher Politik notfalls widerstehen. Ab 1938 stützten er, Carl Goerdeler, die norwegische evangelische Kirche und andere ihren Widerstand gegen den Nationalsozialismus auf die freie Gewissensentscheidung vor Gott und aktualisierten dazu Aussagen Luthers zur bedingten Notwehr gegen ungerechte Obrigkeiten bis hin zum Tyrannenmord.
Erklärungen der Evangelischen Kirchen seit 1945
Die Evangelische Kirche Deutschlands hatte auf der Synode von Weißensee (1950) einen Bruch mit dem Antijudaismus eingeleitet, schwieg aber lange zu Luthers Judenaussagen. Ihre erste Studie zu Christen und Juden (1975) erwähnte diese nicht. Zum 500. Luthergeburtstag 1983 erklärte sie nur: „So wichtig Luthers frühe Schrift über die Juden auch heute noch ist, so verhängnisvoll wurden Äußerungen des alten Luther. Niemand kann sie heute gutheißen.“ Erst die Studie Christen und Juden III (2000) beschrieb Luthers Judentexte von 1523 und 1543 genauer. Luther habe den Unglauben der Juden an Christus wie seine Zeitgenossen auf „böswillige Verblendung und den Einfluss teuflischer Mächte“ zurückgeführt. Dies wurde nicht explizit verworfen.
In den Landeskirchen der EKD begann mit dem rheinischen Synodalbeschluss zur „Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ von 1980 eine Neubesinnung.
Die Landessynode Sachsens erklärte, Luther habe sich immer mehr zu einem „verwerflichen Judenhaß“ verleiten lassen. Die Synode Berlin-Brandenburgs verlangte 1990 erstmals eine Klärung, „ob und wie Luthers Verurteilung der Juden mit seiner Christologie und seiner Rechtfertigungslehre“ sowie seiner Lehre von Gesetz und Evangelium zusammenhänge. 1998 forderte die lutherische Landeskirche Bayern: Luthers „Kampfschriften gegen die Juden“ und alle Stellen, „an denen Luther den Glauben der Juden pauschalisierend als Religion der Werkgerechtigkeit dem Evangelium entgegensetzt“, gelte es „wahrzunehmen, ihre theologische Funktion zu erkennen und ihre Wirkung zu bedenken“. Die Lutherischen Kirchen müssten sich nicht nur inhaltlich davon distanzieren, sondern Ursachen, Motive und Wirkungsgeschichte erforschen und kritisieren. Am 11. November 2015 erklärte die EKD-Synode: Zum 500-jährigen Reformationsjubiläum 2017 sei Luthers Beitrag zu einer antijüdischen Grundhaltung in der evangelischen Kirche zu klären. Er habe theologische Einsichten mit traditionellen judenfeindlichen Denkmustern verknüpft (das Judentum als Werkreligion, die Gott für die Ablehnung Jesu Christi mit irdischem Leiden bestrafe). Diese Muster hätten kontinuierlich seinem frühen Werben um die Juden (1523) und seiner späteren Vertreibungsforderung (1543) zugrunde gelegen. So seien seine Ratschläge jahrhundertelang für eine Duldung der Juden, aber auch für intensivere Judenmission und antisemitische Judenverfolgung benutzt worden, besonders in der NS-Zeit. Einfache Kontinuitätslinien ließen sich nicht ziehen. Nach „unserem heutigen Verständnis“ widerspreche Luthers Judenfeindlichkeit Gottes Offenbarung im Juden Jesus und den biblischen Aussagen zu Gottes bleibender Erwählung Israels und Bundestreue zu diesem Volk. Die reformatorischen Lehren müssten neu bedacht werden, ohne in abwertende Stereotype zu Lasten des Judentums zu verfallen. Besonders der Tanach sei selbstkritisch auszulegen, dabei sei seine jüdische Auslegung als legitim und notwendig anzuerkennen. „Das weitreichende Versagen der Evangelischen Kirche gegenüber dem jüdischen Volk erfüllt uns mit Trauer und Scham.“ Wegen dieser Schuldgeschichte und dem Ruf Jesu Christi zur Buße müssten evangelische Christen heute jeder Form von Judenfeindschaft und -verachtung widerstehen und entgegentreten.
Ein Konsens der heutigen Lutherforschung zeichnet sich ab:
I. Luthers Grundthesen zum Judentum blieben konstant, waren theologisch, nicht rassistisch motiviert und deckten sich weitgehend mit dem vorgegebenen christlichen Antijudaismus.
II. Er übernahm die traditionelle Enterbungs- und Fluchthese, die Stereotype der Schriften gegen Juden, der Predigtagitation und Vertreibungsideologie und dämonisierte die Juden neben anderen Gruppen.
III. Indem Luther das kanonische Recht aufhob und zugleich das „landesherrliche Kirchenregiment“ stärkte, habe er die Judenvertreibung zum politischen Leitbild für die Territorialherren gemacht.
IV. Luthers Vorstellungen von 1543, die Juden seien mit dem Teufel und christenfeindlichen Mächten verbündet, um ihre „Wirtsvölker“ „auszusaugen“ und das Christentum zu zerstören, „waren damals allgemein und in allen Gesellschaftsschichten verbreitet und haben als mentalitätsgeschichtlicher Hintergrund sowohl der Anhänger als auch der Gegner der Reformation zu gelten.“ (Th. Kaufmann, 2010).
V. Luther habe vor 1537 Antonius Margarithas Behauptung übernommen, das Judentum sei insgesamt auf das Schmähen Jesu Christi und Schädigen der Christen ausgerichtet. Anstelle des „Blutfrevels“ habe er die Juden des „Wortfrevels“ angeklagt: Sie verfluchten Christus täglich und mit ihm Gott den Schöpfer. Ihre Toratreue belüge und lästere den allein gnädigen Gott; darin liege ihre teuflische, für Christen gefährliche Werkgerechtigkeit. Nicht die Christen, nur Christus allein könne sie zu sich bekehren und erhalte sein Heilsangebot an sie aufrecht. – Aus diesem konstanten Glauben habe Luther gegensätzliche judenpolitische Konsequenzen gezogen: 1523 eine gewaltlose Mission, 1543 eine gewaltsame Verelendung der Juden. Diese sollte laut Luther den „teuflischen Hochmut“ ihres Erwählungsglaubens brechen, sie zum christlichen Glauben bringen und zugleich den Christen Gottes Zorn veranschaulichen, um ihren Glauben an seine allein rettende Gnade zu bewahren. Luthers Antijudaismus sei also untrennbar mit seiner Rechtfertigungslehre verbunden.
Hinweis: Für Fußnoten verwenden Sie bitte das
PDF-Dokument
Weiter zu (II) Schülermaterialien »